Thema des neuen Buches sind wieder die Gespräche zwischen Floco, Nestor und den Seherinnen und Sehern der „linken Seite der Emme“. Erstmals begegnet Floco aber auch anderen Schülerinnen und Schülern, die das Sehen lernen. Im Mittelpunkt der Gespräche und Begegnungen steht das ganzheitliche Sehen der transparenten fliegenden Punkte und Fäden im Blickfeld, den so genannten „Mouches volantes“. Erforscht und beschrieben werden sie als Konzentrationsgegenstand für die Meditation mit offenen Augen; als leuchtende Bewusstseinsstruktur, in welcher wir einen Weg zu unserem Ursprung zurücklegen; sowie als Ursache von Erscheinungen in Natur und Kultur.
Mitgliederbereich:
Login
Am Ende seiner stabilen Phase, wenn der Stern den Wasserstoff aufgebraucht hat, setzen abhängig von der Masse unterschiedliche Prozesse ein: Massearme Sterne wie die Roten Zwerge glühen einfach aus. Bei Sternen mit mehr Masse, wie unsere Sonne, nimmt die Schwerkraft wieder zu, der Druck auf den Kern wächst, bis die Fusion von Helium zu Kohlenstoff einsetzt. Durch die grössere Hitze wird nun der Wasserstoff in den äusseren Schichten fusioniert, und der Stern bläst sich zum Roten Riesen auf. Nach und nach werden die äusseren Gashüllen abgestossen, was mitunter spektakuläre Bilder, die sog. planetarischen Nebel erzeugt. Übrig bleibt ein kompakter kleiner Kern, der sog. Weisse Zwerg. Sehr massereiche Sterne schliesslich fusionieren im Kern und in diversen Gasschichten noch schwerere Elemente (Schalenbrennen). Der Prozess endet, sobald sich ein Kern aus Eisen gebildet hat, denn Eisen ist so schwer, dass die weitere Fusion mehr Energie benötigt, als sie freisetzt. Der Strahlungsdruck versiegt also, und die Schwerkraft gewinnt die Oberhand. Als Folge stürzen die äusseren Gashüllen auf den Kern, werden zurückgeschleudert und durchdringen sich gegenseitig. Die Bedingungen während dieser sog. Supernova-Explosion sind so extrem, dass nun auch schwerere Elemente wie Gold, Silber und Platin entstehen. Je nach Masse bleibt ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch übrig.
Die Eigenschaften von Sternen sowie die Prozesse in ihrem Inneren erscheinen wie ein Abbild des Sehens der Leuchtstruktur. Wie die Kugeln in der Leuchtstruktur sind Sterne Kugeln mit einem Kern und mit umgebenden Schalen oder Schichten. Und ähnlich wie bei den Leuchtkugeln hängt ihre Grösse und Leuchtkraft vom Energieaustausch mit der Umgebung ab, also von den Kräften nach innen (Gravitation) und nach aussen (Gasdruck, Strahlungsdruck, Zentrifugalkraft). Im Fall der Leuchtstruktur regulieren wir diese Kräfte durch unser Verhalten in einer Art Mehrfachsternsystem: Wenn wir von der Leuchtstruktur mehr „Masse“ bzw. Energie aufnehmen als geben, sie also für körperliche, emotionale und gedankliche Aktivitäten verwenden, dann „leben“ wir vom Strahlungsdruck der Leuchtkugeln. Deren Masse und Schwerkraft nimmt dabei ab, bis sie irgendwann ausglühen und zerfallen – im Sehen werden sie also schwächer. Durch konzentrative und meditative Übungen jedoch bringen wir die weltlichen Aktivitäten immer mehr zur Ruhe. Wir brauchen also immer weniger Energie oder Masse von den Leuchtkugeln. Dies bedeutet, dass deren Schwerkraft die Strahlkraft überwiegt, so dass sich die Kugeln verdichten – dies sehen wir daran, dass die Kugeln kleiner werden und leuchten. Dasselbe passiert in uns selbst: Die nach aussen gerichtete Kraft in der Form von weltlichen Aktivitäten nimmt ab, wodurch wir uns durch unsere eigene Schwerkraft allmählich verdichten. Wenn wir zusätzlich „Masse“ bzw. Energie oder inneren Druck ansammeln, werden wir bei der Konzentration noch dichter und „heisser“ – indische Yogis sprechen beispielsweise von tapas, der inneren Hitze. Irgendwann sind wir durch Konzentration und Meditation so verdichtet, dass wir „zünden“ und die nach aussen gerichtete Kraft als Licht und Ekstase abgeben. Dann haben wir einen Zustand erreicht, den wir „Seherin“ oder „Seher“ nennen. Dann „nähren“ wir die Leuchtstruktur durch die Energieabgabe in der Form von Ekstase. Diese zusätzliche Energie bzw. Masse lässt die Schwerkraft der Leuchtkugeln anwachsen, so dass wir selbst von ihnen angezogen werden – wir sehen die Leuchtkugeln also zunehmend grösser und leuchtender.
Es heisst, wir Menschen seien Sternenstaub. Und zwar ganz konkret, denn der Kohlenstoff in unseren Zellen, das Kalzium in den Knochen, der Sauerstoff, den wir atmen, das Eisen in den roten Blutkörperchen – unser Körper, und überhaupt alles auf der Erde, setzt sich aus Elementen zusammen, die vor langer Zeit in Sternen entstanden sind und durch Supernovae im Kosmos verteilt wurden. Doch wenn wir uns auch als geistige Wesen verstehen, die die nach innen wie nach aussen gerichteten Kräfte für die Bewusstseinsintensivierung nutzen und dabei Energie umwandeln und ausstrahlen, dann greift das zu kurz: Wir nicht nur Sternenstaub. Wir sind Sterne.
Heikedine Günthers Kerne lassen sich essentiell als eine Anordnung von Licht und Dunkelheit begreifen, wobei das Zentrum und die Ringe jeweils eher lichtvoll oder eher dunkel erscheinen. In manchen Werken, wie hier bei den Kernen 439 und 440, befasst sich die Künstlerin direkt mit dieser Dualität. Es handelt sich um einen weissen und einen schwarzen Kern, die individualisierenden Farben werden hier buchstäblich zur Randerscheinung. Weiss und Schwarz, Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Frau und Mann – die Kerne stehen für alle Arten von Polarität und Dualität. Sie zeigen aber auch, dass wir es nicht nur mit Gegensätzen zu tun haben, sondern mit gegenseitiger Bedingtheit und Ergänzung. Ohne die Dunkelheit gibt es kein Licht und umgekehrt. Die reine Dualität der Kerne ist ausserdem in einen Raum eingebettet, in dem Licht und Dunkelheit graduell ineinander übergehen – vielleicht ein Hinweis darauf, dass Licht und Dunkelheit nur in der idealen Realität der Kerne getrennt und absolut sind, im Leben selbst aber in zahlreichen Mischverhältnissen erscheinen.
Die Parallelen zu den Kugeln der Leuchtstruktur sind vielfältig. Wie bei den Leuchtkugeln sticht die Kreisform in Günthers Arbeiten als Grund- und Urform heraus – obwohl die Künstlerin in rezenteren Werken auch weitere Formen des Kerns erforscht, so im „kosmologischen Buch“, an dem sie gegenwärtig arbeitet und dessen Bilder an die kosmografischen Darstellungen neuzeitlicher Gelehrter wie Andreas Cellarius, Athanasius Kircher oder Robert Fludd erinnern. Wie die Leuchtkugeln sind die Kerne Gebilde, deren innerster Grund durch weitere Schichten ummantelt ist, aber dennoch wahrnehmbar bleibt. Weiterhin ist die Wahrnehmung sowohl der Leuchtkugeln wie auch der Kerne lichtabhängig. Die Leuchtkraft der Kugeln ist ein Ausdruck der inneren wie der äusseren Lichtintensität (siehe News 2-17). Und wie die lumineszierenden Kerne sind sie bei Tageslicht transparent oder sogar leuchtend und erscheinen in der Dunkelheit als farbige Lichtflecken, in der Physiologie „Phosphene“ genannt (vgl. Diagramm). Schliesslich ist auch die Dualität ein gemeinsames Thema: In der Leuchtstruktur gibt es zwei Arten von Kugeln, jene mit hellem Kern und jene mit dunklem Kern. Wie im Fall von Günthers Kernen wird hier Dualität in ihrer Essenz sichtbar.
Kann es also eine Verbindung zwischen Heikedine Günthers Kernen und den Kugeln der Leuchtstruktur geben? Die Arbeit der Künstlerin ist zwar keine entoptic art (vgl. Tausin 2019b), ist also nicht direkt durch das Sehen subjektiver entoptischer Lichterscheinungen inspiriert. Entoptische Kreismuster könnten aber die visuelle Grundlage für den ersten Kern gewesen sein, den Günther in der aktiven Imagination als inneres Bild gesehen hat: ein von Blut ummanteltes goldenes Ei. Auch einen indirekten Zusammenhang könnte es geben, sofern die These von der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Leuchtstruktur zutrifft (z.B. Tausin 2019c): Das universelle Symbol des punktierten oder konzentrischen Kreises, das für ein Kosmos erzeugendes und Leben spendendes Urprinzip steht, wird in der bildlichen Kunst seit Jahrtausenden tradiert, reproduziert und interpretiert. Wahrscheinlich geht es auf die Wahrnehmung von Seherinnen und Sehern aller Art während bewusstseinsintensivierten Zuständen zurück. Dieses Prinzip – ob es nun im eigenen Inneren oder in den Werken früherer Künstlerinnen und Künstlern gesehen wird – inspiriert Forschende und Kunstschaffende bis heute. So könnten etwa die Visionen der Hildegard von Bingen (Tausin 2019a) wie auch die kulturübergreifenden Archetypen von C. G. Jung (Sayin 2014; vgl. News 2/14) durch die Leuchtstruktur geprägt sein – zwei Beispiele, die auch für Heikedine Günthers Kunst einflussreich waren.
Wichtiger als die Inspirationsquelle des Kerns ist jedoch die Arbeit damit. Hier zeigt Günther, dass die künstlerische Tätigkeit selbst zu einem Weg werden kann, den Kern oder das Selbst zu suchen, sich ihm zu nähern und sich damit zu verbinden. Wie für jede bewusstseinsintensivierende Praxis braucht es auch für das Malen Disziplin und Hingabe. Es braucht Zeit und Raum für die Forschung und die Vorbereitung. Dann aber soll der Kopf schweigen: Durch Musik und Yogaübungen versetzt sich die Künstlerin in die richtige Schwingung, die Auswahl der Farben werden zur reinen Gefühlssache, die Malbewegungen zur Meditation. Wie der Seher oder die Seherin allmählich die Bewusstseinsschichten durchdringt, so arbeitet sich die Künstlerin durch die diversen Farbschichten in einem Prozess des Gebens, Nehmens und Loslassens. Dafür braucht sie durchaus Mut und Offenheit, um das, was sich auf diese Weise zeigt und reift, über alle vorgefassten Vorstellungen hinweg anzunehmen. Kann auf diese Weise Vollkommenheit erreicht werden? Vielleicht nicht im Bild selbst, wo die Schwingung der Künstlerin keine exakten Kreisformen sucht, und wo jede Bewegung eine Veränderung mit zahlreichen neuen Möglichkeiten eröffnet. Doch ähnlich wie bei den Enso-Bildern in der japanischen Kalligraphie (siehe News 4/08) ist das resultierende Bild, geprägt durch den Schwung im Geist wie im Körper, ein Ausdruck des Daseins im Moment – und dieses Dasein ist im „Kern“ stets vollkommen. Ob es sich nun im Sehen oder im Malen zeigt.
Danke, Heikedine Günther, für Ihre Bilder!
Das Sehen ist Teil einer Spiritualität, die alle Aspekte des Lebens umfasst (siehe News 1/16). Was den Lebensstil betrifft, legen uns die Seher Genügsamkeit nahe. Genügsam ist, wer freiwillig ein Leben mit wenig materiellem Besitz und Konsum führt. Aus der Sicht der Seher erleichtert uns dies ein selbstbestimmtes, kreatives und spirituelles Leben.
Denn der Besitz von Gütern und das Streben danach bindet viel von unserer Zeit und Energie. Wollen wir dieses oder jenes Produkt unser Eigen nennen, müssen wir dafür Geld beziehungsweise Zeit und Arbeitskraft aufwenden. Und nachdem wir es erworben haben, investieren wir weiterhin Zeit und Aufmerksamkeit in das Gut, insofern wir uns damit beschäftigen. In den Worten der Seher: Unsere Energie steckt gebunden und aufgeteilt in der Materie, die wir um uns herum ansammeln. Diese Energie ist somit nicht für unser unmittelbares Leben, für fokussierte tiefere Betrachtungen und für das Sehen verfügbar.
Genügsamkeit ist ein Weg, um hier Abhilfe zu schaffen. Dazu können wir unnötigen Besitz nach und nach weggeben und keine Güter mehr anschaffen, die für unser Leben und Arbeiten nicht notwendig sind. Auf diese Weise machen wir uns die in der Materie gebundene Energie wieder zugänglich. In Kombination mit anderen Übungen führt dies zu grösserer Heiterkeit, Ruhe und Lebendigkeit. Und schliesslich zur Ekstase, die unser Bild beleuchtet. Oder anders gesagt: Wir brennen die Materie aus der Leuchtstruktur aus, und die Kugeln und Fäden erscheinen leuchtender und intensiver.
Natürlich ist es eine Frage der persönlichen Lebensrealität sowie der Lebensziele, welche Güter für uns notwendig sind. Auch unser Umfeld hat einen Einfluss auf die Wünsche und Ängste, die uns hier prägen. Die Botschaft, die wir alle mitkriegen, geht ja meist in die andere Richtung: Wir sollen ein Leben lang in Voll- und Überzeit arbeiten, beruflich aufsteigen, den Lebensstandard ständig verbessern und mit allen anderen Menschen gleichziehen oder – besser noch – sie überflügeln. Dafür werden wir geachtet. Auf der anderen Seite fürchten wir womöglich die finanzielle und materielle Unsicherheit, den sozialen Abstieg und den Ausschluss am gesellschaftlichen Leben, die mit einem genügsamen Lebensstil verbunden sein könnten.
Je konsequenter und intensiver wir ein energetisch freies spirituelles Leben führen möchten, desto mehr lösen wir uns von solchen Wünschen, Erwartungen und Ängsten. Desto stärker konzentrieren wir uns beim Lebensstil auf die elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit und soziale Beziehungen. Und desto eher sind wir auch in diesen Dingen noch genügsam, so etwa im Verzicht auf tierische Nahrungsmittel (siehe News 2/21) oder in der längeren Nutzung von Kleidern (Stichwort: Slow Fashion). Viele Bedarfsgegenstände können wir auch leihen, teilen oder gebraucht erwerben. Ein materiell genügsamer Lehensstil ermöglicht uns zudem, die Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren, um zusätzliche Ressourcen zu erschliessen. Die Erwerbsarbeit und der Konsum sollen unser Leben und unsere spirituelle Praxis ermöglichen – und nicht umgekehrt.
Leben wir genügsam, tun wir aber nicht nur etwas für uns selbst, sondern auch für andere. Denn wir wissen es längst: Unseren ressourcenintensiven Lebensstil bezahlen wir – vor allem aber unsere Nachkommen – zunehmend mit der Erwärmung des Klimas, mit Extremwetterereignissen, Umweltkatastrophen, entsprechender Migration, Pandemien und mit zunehmenden Konflikten um Ressourcen. Eine genügsame Lebensweise – Ökonomen sprechen von „Suffizienz“ – ist ein konkreter Beitrag zu einer zukünftigen Welt, in der das Wirtschaften nachhaltig ist. Kritische Stimmen bezweifeln zwar, dass man durch Verzicht eine Kehrtwende herbeiführen wird. Denn obwohl es mittlerweile zahlreiche Aktionen und Bewegungen für einen genügsamen Lebensstil gibt – so etwa der Kauf-nix-Tag, Freeganismus, Do it yourself, Leihen und Teilen von Gegenständen (Sharing), Simple Living, Minimalismus, Frugalismus u.a. – sind dies bisher Randerscheinungen. Die Mehrheit der Menschen ist zwar durchaus für Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Aber nur, wenn es keine zusätzlichen Kosten verursacht, man auf nichts verzichten und sich nichts vorschreiben lassen muss.
Hier springt dann die Wirtschaft mit innovativen Produkten ein, die in der Herstellung und im Verbrauch effizienter sind. Sie werden als „klimaneutral“, „CO2-frei“ oder „Net Zero“ beworben und erwecken den Eindruck, dass wir uns zu verantwortungsvollen Klimabürgern shoppen können. Das ist natürlich illusorisch. Zum einen können sich solche üblicherweise teureren Produkte nur die wohlhabenderen Kunden leisten, die durch ihren aufwändigeren Lebensstil ohnehin überdurchschnittlich viel Emissionen erzeugen – und somit eher etwas für ihr Gewissen, denn für die Umwelt tun. Zum anderen werden in der Klimarechnung solcher Produkte kaum je der gesamte Ressourcenverbrauch und alle Umweltschäden berücksichtigt – würden sie es, wie es z.B. das MIPS-Mass (Material Input pro Serviceeinheit) annäherungsweise tut, dann würden viele Produkte auf einen Schlag unerschwinglich. Und schliesslich stimmt es natürlich, dass wir mit den verfügbaren Ressourcen effizienter umgehen müssen, wozu langlebige, reparaturfähige und recyclefähige Produkte beitragen – hier sind Technologie und Wirtschaft gefordert. Doch Effizienz allein wird nicht die gewünschte Wirkung haben, wenn dafür wiederum mehr und ressourcenintensivere Güter konsumiert werden (Rebound-Effekt). Beispielsweise sparen wir durch die Digitalisierung zwar Flüge und Fahrten und damit jede Menge Energie und CO2-Emissionen ein. Aber was nützt das, wenn es immer mehr digitale Endgeräte gibt, wenn selbst in Haushaltsgeräte, Betten und Toiletten Mikrochips eingebaut werden, und wenn die dabei erzeugte Datenmenge ins Gigantische wächst und die Infrastruktur zu deren Verwaltung mittlerweile einen dreimal so grossen ökologischen Fussabdruck hinterlässt wie Frankreich oder Grossbritannien?
Vielleicht werden wir irgendwann eine Kreislaufwirtschaft nach dem Vorbild der Natur haben, in der alle verwendeten Energien erneuerbar sind, keine Abfälle entstehen und die Ökosysteme intakt bleiben (die sog. Ökokonsistenz). Doch selbst wenn das realisierbar sein sollte, ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Und selbst dann wird es nicht ohne Genügsamkeit gehen, um die Naturverträglichkeit von Produktion und Konsum zu gewährleisten. Es gilt also: keine Effizienz und Konsistenz ohne Suffizienz – oder anders gesagt: Wir schaffen den Sprung in die Nachhaltigkeit nicht, wenn wir nicht auch Genügsamkeit leben. Dazu reichen weder die freiwilligen Aktionen und Bewegungen von Individuen, noch die grüne Richtung in Technologie und Wirtschaft. Als Gesellschaft und als globale Gemeinschaft müssen wir systemverändernde Massnahmen ergreifen wie beispielsweise eine Ressourcen schonende Subventionspolitik, eine substanzielle Arbeitszeitreduktion sowie die gerechte Verteilung des Reichtums. So lassen sich die Produktion und der Konsum auf ein naturverträgliches Mass reduzieren und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit für alle realisieren, nicht nur für die Wohlhabenden.
Ein Problem dabei ist, dass viele Menschen Genügsamkeit immer noch mit Verzicht, Entsagung und Einschränkung gleichsetzen. Man stellt sich eine Minderung der Lebensqualität vor, ein Leben in Mangel und ohne Freude. Da bringen auch die moralischen Appelle nichts, die den Erhalt der Lebensfreundlichkeit des Planeten für alle Menschen und für zukünftige Generationen ins Feld führen. Denn Menschen wollen für ihre Anstrengung oder Investition hier und jetzt belohnt werden. Soll die Genügsamkeit mehrheitsfähig werden, muss sich also die Perspektive ändern. Im Gegensatz zum Verzicht beinhaltet Genügsamkeit die Idee des genug Habens: Was wir haben, genügt, um unsere wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Und damit haben wir zugleich genug Zeit und Energie für Tätigkeiten, die die Sinnhaftigkeit und Qualität unseres Lebens steigern. Dies ist ein ganz konkreter und sofortiger Gewinn, der aber als solcher erst erkannt werden muss.
Und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die die Seher – und alle, die bereits ein genügsames Leben führen – uns für die Umstellung mitgeben: Es geht nicht nur um die Einsparung von Ressourcen, um den Schutz der Natur oder um Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich sowie zwischen den Generationen. Es geht eben auch darum, zu entdecken, dass sich die Schätze unseres Lebens wie Sinnhaftigkeit, Klarheit, Liebe, Glück, Selbstbestimmung, Gesundheit und Sicherheit kaum mit materiellen Gütern und Dienstleistungen erkaufen lassen, wie uns eine wachstums- und profitorientierte Wirtschaft glauben machen will. Sondern dass wir sie, sobald unsere lebensnotwendigen und wichtigsten Bedürfnisse gedeckt sind, in uns selbst, in unserem Bewusstsein kultivieren können – wenn wir uns die Zeit und Energie dafür nehmen, von denen wir dank eines genügsamen Lebensstils mehr haben.
- Frey, Philipp (2019): The Ecological Limits of Work. On carbon emissions, carbon budgets and working time. Autonomy. autonomy.work (15.1.22)
- Heinrich, Annelie; Müller-Christ, Georg (2021): „Unternehmen kommunizieren Suffizienz – Beispiele aus der Praxis für die Förderung eines genügsamen Konsums“. Nachhaltiger Konsum. Best Practices aus Wissenschaft, Unternehmenspraxis, Gesellschaft, Verwaltung und Politik, hrsg. v. Wanja Wellbrock und Daniela Ludin. Wiesbaden: Springer, hrsg. 185-207
- Hoet, Emilien (2020): „Was bedeutet Net Zero wirklich?“ Climatepartner.com. climatepartner.com (20.1.22)
- Kirsch, Therese; Steinmeier, Fara (2021): „‚Suffizienz unterstützen‘ als Geschäftsmodell“. Nachhaltiger Konsum. Best Practices aus Wissenschaft, Unternehmenspraxis, Gesellschaft, Verwaltung und Politik, hrsg. v. Wanja Wellbrock und Daniela Ludin. Wiesbaden: Springer, hrsg. 209-233)
- Lecoeuvre, Claire (2021): „Ist weniger arbeiten gut fürs Klima?“ Le monde diplomatique, 10.6.21. monde-diplomatique.de (19.1.22)
- Linz, Manfred (2004): Weder Mangel noch Übermass: Über Suffizienz und Suffizienzforschung (Wuppertal Papers 145, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Wuppertal). nbn-resolving.de (19.1.22)
- Minge, Benedikt (2018): „Suffizienz, Konsistenz und Effizienz – Drei Wege zu mehr Nachhaltigkeit“. Relaio.de. relaio.de (19.1.22)
- Pitron, Guillaume (2021): „Klimakiller Tiktok. Die Ökosünden der Digitalindustrie“. Le Monde diplomatique 10/21. monde-diplomatique.de (18.1.22)
- Rosnick, David (2013): „Reduced Work Hours as a Means for Slowing Climate Change“. Center for Economic and Political Research (CEPR). cepr.net (15.1.22)
- LSachs, Wolfgang (1993): „Die vier E’s. Merkposten für einen mass-vollen Wirtschaftsstil“. Politische Ökologie 11, Nr. 33: 69-72. epub.wupperinst.org (18.1.22)
- Scherhorn, Gerhard (2008): „Über Effizienz hinaus“. Ressourceneffizienz im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte, hrsg. v. Susanne Hartard, Axel Schaffer und Jürgen Giegrich. Baden-Baden: Nomos: 21-30. epub.wupperinst.org (19.1.22)
- Tausin, Floco (2010): Mouches Volantes - Die Leuchtstruktur des Bewusstseins. Bern: Leuchtstruktur Verlagbr>