Thema des neuen Buches sind wieder die Gespräche zwischen Floco, Nestor und den Seherinnen und Sehern der „linken Seite der Emme“. Erstmals begegnet Floco aber auch anderen Schülerinnen und Schülern, die das Sehen lernen. Im Mittelpunkt der Gespräche und Begegnungen steht das ganzheitliche Sehen der transparenten fliegenden Punkte und Fäden im Blickfeld, den so genannten „Mouches volantes“. Erforscht und beschrieben werden sie als Konzentrationsgegenstand für die Meditation mit offenen Augen; als leuchtende Bewusstseinsstruktur, in welcher wir einen Weg zu unserem Ursprung zurücklegen; sowie als Ursache von Erscheinungen in Natur und Kultur.
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Handelt es sich bei den Kugeln und Fäden der Leuchtstruktur also um Zellen? Für die Seher stellt sich der Sachverhalt anders herum dar: Nicht Leuchtstruktur Mouches volantes sehen wie Zellen aus, sondern Zellen wie die Leuchtstruktur – weil sie nach dem Prinzip der Leuchtstruktur aufgebaut sind. Zwar sind Zellen nur selten schön kreisrund wie die Leuchtkugeln, und sie reihen sich auch nur selten zu Kugelketten aneinander. Ausnahmen sind hier die runden Eizellen von weiblichen Säugetieren und Frauen, sowie die Kettenanordnung mancher Kugelbakterien (Streptokokken). Aber was alle Zellen gemeinsam haben, entspricht dem grundlegenden Aufbau der Leuchtstruktur: sie haben eine äussere Membran, einen helleren Teil im Inneren – das Zellplasma mit Nährstoffen, Proteinstrukturen und Organellen – sowie einen dunkleren Kern oder Kernäquivalent im Zentrum mit dem Erbgut. Der Dualismus zwischen Kern und Umfeld wird auch durch die jeweiligen Funktionen unterstrichen: der Kern ist die Steuerzentrale, das Umfeld der gesteuerte oder ausführende Bereich.
Die Leuchtstruktur ist Teil eines Energieaustausch-Systems: Unsere Lebenskraft beziehen wir aus dem Licht der Leuchtstruktur und verbrauchen sie für Lebensfunktionen und Handlungen. Der Seher oder die Seherin jedoch gibt sie als Ekstase zurück in die Leuchtstruktur und verstärkt somit deren Leuchten. In ähnlicher Weise betreiben auch Zellen Stoff- und Energiewechsel. Nach klassischer Lehre wandeln sie Stoffe in Energie oder in andere, für den Körper notwendige Stoffe um, aus dem sie wiederum die Energie für ihre Aktivität beziehen. Doch seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ab, dass der zelluläre Energieaustausch auch in der Form von Licht stattfindet. Ein Team um den deutschen Biophysiker Fritz-Albert Popp hat in den 1970er Jahren ultraschwache Lichtstrahlung in lebenden Zellen nachgewiesen und sie „Emission von Biophotonen“ genannt. Wie und wozu das geschieht, ist in der Biologie umstritten. Popp selbst vermutet, dass Biophotonen durch Elektronen erzeugt werden, die von Sonnenlicht angeregt sind. Aber auch, dass es sich um kohärente, also kommunikativ-ordnende Lichtinformation handelt. Diese koordiniert die biologischen Vorgänge innerhalb und zwischen den Zellen – eine Idee, die in der Biologie meist verworfen wird, in der Alternativmedizin hingegen Anwendung findet. Mittlerweile dienen die Biophotonen auch als Ansatz, um entoptische Phänomene wie Phosphene und Eigengrau (auch Eigenrauschen, visual snow/noise, dark noise) zu verstehen (Li 2016; Bókkon/Vimal 2009; Bókkon 2008). Auch das Licht in der Leuchtstruktur lässt sich als Emission von Biophotonen begreifen, sofern die Leuchtstruktur Mouches volantes auf neuronale Aktivität zurückgeführt wird (Tausin 2009). Aber ob es sich nun um genau dasselbe Licht handelt oder nicht – zentral ist, dass uns sowohl aus den Zellen wie aus der Leuchtstruktur „Lebensenergie“ entgegenleuchtet.
Von der Biophotonenemission wird ausserdem gesagt, dass sie das Wachstum, und damit die Zellteilung anregt. Durch das kommunikativ-ordnende Licht entwickelt sich im Fall des Menschen aus einer einzigen befruchteten Eizelle ein komplexer Organismus aus Hunderten von Zelltypen und Billionen von Zellen. Die ersten Zellen, die Stammzellen, sind so potent, dass sie sich in alle möglichen Zelltypen differenzieren können (Pluripotenz). Die zellbiologische Betrachtung der Entstehung von Lebewesen widerspiegelt damit die Entstehung des Kosmos aus einer einzigen – und dann aus einigen wenigen – potenten Leuchtkugeln. Diese bilden eine immer komplexer werdende Struktur, die auf jeder weiteren Schicht Licht und Materie auf immer differenziertere und spezifischere Weise anordnet. Auf diese Weise, sagen die Seher, ermöglicht die Leuchtstruktur Leben und Welt, wie wir sie kennen.
Es ist also nachvollziehbar, wenn Anurag seine Erscheinung als Pforte beschreibt. Und genau diese Interpretation erklärt vielleicht auch, weshalb die Vorstellung von einer Pforte, einem Eingang oder einem Tor tief in unserem kulturellen und symbolischen Repertoire verankert ist. Eine Pforte ist ein Eingang in einen ansonsten unzugänglichen, anderen Bereich. Von daher hat die Pforte gerade im mythischen, religiösen und spirituellen Zusammenhang eine hohe Symbolkraft. Hier steht sie für den Zugang – oder Ausschluss – zu einem anders- oder innerweltlichen Bereich, der dem Mensch aufgrund seiner menschlichen Bedingtheit verwehrt ist. Erst wenn der Mensch würdig ist – z.B. reif, rein, wissend, weise, gerecht, erwacht, erleuchtet, transzendiert oder aus dem Körper entschwunden – darf er durch die Pforte schreiten. Diese Pforte kann ausserhalb des Menschen gedacht werden, so die Pforten zu übernatürlichen Himmels- und Paradieswelten. Oder sie wird als innerlich-mystischen Durchgang zu anderen Verständnis-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsräumen empfunden: Von Johann Valentin Andreaes Chymische Hochzeit, über William Blakes The Marriage of Heaven and Hell und – davon inspiriert – Aldous Huxleys Pforten der Wahrnehmung bis zu vielen neoschamanischen, magischen, alternativ spirituellen und esoterischen Autorinnen und Autoren – oft dient die Pforte als Metapher, um den Beginn neuer Abschnitte der Bewusstseinsentwicklung zu beschreiben.
Doch womöglich ist die spirituelle Pforte nicht einfach nur eine Metapher. Etliche Nahtod-Erfahrende, Schamanen und Klarträumer berichten von Tunneln, Röhren, Gängen, durch die sie beim Übertritt in die Anderswelt gehen. Man kann einwenden, dass diese Visionen noch aus dem Gedächtnis von realweltlichen Erscheinungen geprägt sind. Doch auch manche abstrakten entoptische Gebilde wie die Phosphene legen subjektive visuelle Zentren im Fokus des Blicks nahe. Und für die Leuchtstruktur berichten die Seher, dass sie auf eine einzige Kugel zugehen. Sie vermuten, dass diese Kugel ein Eingang in diese Struktur und damit auch eine Pforte ist. Entoptische Erscheinungen könnten damit die ursprüngliche seherische Grundlage für die symbolische Verwendung der Pforte sein.
Danke, Anurag, für dein Video und die Inspiration!
Die Leuchtstruktur widerspiegelt die Lichtverhältnisse im Innen und Aussen. Je grösser die Fähigkeit zur Konzentration (Ganzheitlich Sehen 3/13) und zur Ekstase (Ganzheitlich Sehen 1/13), desto stärker leuchten die Punkte und Fäden. Dies ist der Grund, weshalb die Leuchtstruktur auch im Dunkeln gesehen werden kann (Tausin 2010).
Doch auch die äusseren Lichtverhältnisse tragen zum Leuchten der Leuchtstruktur bei. Denn es ist auch das äussere Licht, das uns speist und das die Energie für das Sehen mit dem Inneren Sinn, sowie für die Konzentration und die Ekstase liefert. Für das Sehen eignet sich somit der Blick in den Himmel bei Tag. Im Weiteren beeinflusst der Zustand des Himmels die Erscheinung der Leuchtstruktur. Der Blick auf dunkle Regenwolken nimmt weniger Licht für das Sehen auf als der Blick in einen wolkenlosen Himmel. Ein durchzogener Himmel mit fantastischen Wolkenformationen sind ein Augenschmaus, für das Sehen jedoch eher ablenkend. Hier eignet sich der Blick auf grössere weisse Flächen. Ein weitgehend wolkenloser oder aber gleichmässig bewölkter Himmel bietet die beste Sehfläche. Optimal ist ein Himmel mit feinem Hochnebel, der von der Sonne beleuchtet wird. Es ist kein Zufall, dass der Künstler Shane in seinem „Kopfkino“-Experiment sowie Ganzfeld-Künstler generell gerade diese Flächeneigenschaften – gleichmässig, unstrukturiert, beleuchtet – für die Erzeugung entoptischer Erscheinungen und der Leuchtstruktur einsetzen (Ganzheitlich Sehen 1/16).
Es gibt aber auch ein Zuviel des Guten. Insbesondere, wenn wir von drinnen ins Freie gehen um zu sehen, sollten wir unseren Augen einen Moment der Gewöhnung gönnen, bevor wir in den Himmel blicken. Ein paar Minuten der Stille beispielsweise, oder ein paar Aufwärmübungen (Ganzheitlich Sehen 1/17). Direkte Sonnenlichteinstrahlung ist für die Meditation mit offenen Augen natürlich zu meiden. Die Hinwendung zur Sonne lässt sich aber nutzen, wenn wir unsere Leuchtstruktur durch geschlossene Augen oder durch die Wimpern der zusammengekniffenen Augen betrachten möchten. Die Streuung des Sonnenlichts durch die Wimpern lässt die Kugeln und Fäden sehr deutlich erscheinen. Daneben erscheint auch das „Meer aus Kugeln“ bzw. die Makulachagrin (Ganzheitlich Sehen 4/10) sowie ggf. die im tibetischen Dzogchen-Buddhismus bedeutsamen Regenbogenkreise (Holistic Vision 2/12). Wer sich mit geschlossenen Augen der Sonne zuwendet, kann ebenfalls seine Leuchtpunkte und Fäden sehen. Zwar kann der dunklere Hintergrund die Leuchtkraft der Kugeln und Fäden mindern, dafür entlasten die geschlossenen Lider die Muskulatur um die Augen. Dies ermöglicht ein entspannteres Sehen.
- Tausin, Floco (2010): Mouches Volantes - Die Leuchtstruktur des Bewusstseins. Bern: Leuchtstruktur Verlag
- Tausin, Floco (2010): „Lichter in der Anderswelt. Mouches volantes in der darstellenden Kunst moderner Schamanen“. Ganzheitlich Sehen (2/10). www.mouches-volantes.com (19.8.17)
- Tausin, Floco (2009): „Meditation mit offenen Augen – Der visuelle Weg zur Entwicklung des Inneren Sinns“. GreenBalance 13. (28.4.17)