Gerade zu Beginn meines Übens hatte ich Schwierigkeiten, die Fliegen zu erwischen oder aber – wenn ich sie denn erwischte – sie dabei nicht zu verletzen. Auf dem spirituellen Weg sind wir in derselben Situation. Wir leben und üben entsprechend und dürfen hin und wieder die Früchte dafür ernten. Aber es gibt auch immer wieder Situationen, in denen wir nicht so bewusst, so klar, so weise, so liebevoll und gütig sind, wie wir es uns wünschen. Dann fühlt es sich an, als hätten wir gar nichts gelernt. Sich hier in Geduld zu üben bedeutet beispielsweise, sich einen Moment lang zu vergegenwärtigen, dass wir auf dem Weg sind. Dass es Umstände und Situationen gibt, die wir nicht kontrollieren können. Und dass wir tun, was wir im Moment tun können. Auch wenn wir das Gefühl haben, wir könnten oder sollten mehr tun. Diese längerfristige Form der Geduld bedeutet also einerseits, die eigene Situation und Unvollkommenheit anzunehmen. Andererseits dürfen wir diese Unvollkommenheit auch wieder relativieren, indem wir uns an den Menschen zurückerinnern, der wir vor einem Jahr, vor fünf Jahren, vor zehn oder zwanzig Jahren waren. Und die Fortschritte erkennen, die wir seither machen durften. Geduld zu haben bedeutet hier auch, Vertrauen zu haben. Vertrauen in den Kosmos, in eine wie auch immer geartete höhere Intelligenz, in uns selbst. Wenn wir vertrauensvoll und ausdauernd sind, werden wir reifen wie eine Frucht, die an angenehmen Qualitäten wie Farbe, Geruch und Geschmack zunimmt.
Das Fliegenfangen hat aber auch einen kurzfristigen Aspekt. Es erfordert von mir, zu warten, bis sich die Fliege an einen Ort gesetzt hat, wo ich sie gut nehmen kann. Und es erfordert ein achtsames Anpirschen, damit ich sie nicht verschrecke. Auch im Alltag kommen wir immer wieder in Situationen, in denen unsere Geduld strapaziert wird. Wir müssen in einer Schlange oder einem Stau warten, obwohl wir einen Termin haben und bereits spät dran sind. Wir sind herausgefordert, wenn wir übergangen werden, wenn Menschen uns nicht zu Wort kommen lassen oder uns eine Antwort schuldig bleiben. Freunde, Partner oder Kinder verhalten sich nicht so, wie wir es erwarten und jetzt gerade brauchen würden. Geduldig zu sein bedeutet hier, einen Moment lang innezuhalten und zu warten. Dieses Warten ist alles andere als passiv. Es ist ein Zustand der achtsamen Vergegenwärtigung, um im richtigen Moment richtig handeln zu können, anstatt überstürzt zu handeln und in ungute Gefühle abzudriften. Diese Vergegenwärtigung erreichen wir beispielsweise durch ein Einfühlen in den Körper. Je nach Situation können wir uns dafür mehr oder weniger Zeit nehmen. Wichtig ist, für den Augenblick alles loszulassen und die Körperglieder zu fühlen: Kopf, Arme und Hände, oberer und unterer Rücken, Brust und Bauch, Becken, Beine und Füsse. Auf diese Weise wird der Impuls der Ungeduld in fühlende Präsenz umgewandelt. Diese Art von Geduld ist eine blitzschnelle Meditation, die wir mehrmals im Alltag üben können, egal in welcher Situation wir sind. Und sie zeigt, wodurch Geduld letztlich gefördert wird: Dadurch, dass wir uns immer wieder Zeit für die innere Stille und Achtsamkeit nehmen, aber auch für Körperübungen, die das Einfühlen in den Körper fördern. Geduld zu haben bedeutet also, im Moment anzukommen. Und zu begreifen, dass alles, was wirklich wichtig ist, hier und jetzt passiert.