Dieser Vorgang stellt sich Sayin folgendermassen vor: Die frühesten Menschen, die weder Schrift noch Sprache kannten, hatten abstrakte Konzepte von überlebenswichtigen Erfahrungen entwickelt, und zwar mit Hilfe von gut unterscheidbaren entoptischen Mustern – Linien, Quadrate, Kreise, Ellipsen u.a. Während Jahrtausenden haben sich diese Muster als „altes Wissen“ in das menschliche Nervensystem eingebrannt und wurden zur Grundlage des abstrakten Denkens. Die entoptische Rückerinnerung an diese archaischen Lebenserfahrungen aus dem kollektiven Unbewussten in schamanischen Ritualen und Zeremonien habe die Menschen befähigt, die Informationen lebendig zu halten und an die nächste Generation weiterzugeben. Die Phosphene und entoptischen Bilder sind damit Teil einer vergessenen archaischen neurologisch-visuellen Zeichensprache, die einen Vorteil für die Entwicklung des Menschen bedeutete.
Kommentar von Floco:
Die Arbeit von H. Ümit Sayin ist keine Studie im strengen wissenschaftlichen Sinn, sondern ein etwas sperriger Essay im Rahmen der neuen und umstrittenen „Neuroquantologie“, wo Bewusstseinsforschung, Neurowissenschaften und Physik zusammentreffen. Der Beitrag von Sayin lässt sich als eine Anregung betrachten für das Verständnis von entoptischen Erscheinungen generell, und von Mouches volantes im Speziellen – obwohl der Autor Mouches volantes nicht erwähnt. Zunächst bestätigt der Autor für uns bereits Bekanntes: so die Deutung von steinzeitlichen Felsbildern als figurative und abstrakte Visionen im Zuge schamanischer Rituale; oder die Idee, dass sich diese Zeichen im Laufe der Zeit zu religiösen Symbolen entwickelt haben (vgl. Tausin 2006, sowie den
Hauptartikel in diesem Newsletter).
Ein spannender Gedanke, der für die spirituelle Arbeit mit Mouches volantes erwogen werden kann, ist Sayins Vorschlag, die Wahrnehmung entoptischer Erscheinungen als archetypische Bilder zu verstehen. Der Begriff „Archetypus“ ist uns v.a. durch die Arbeit von Carl Gustav Jung bekannt. Der Schweizer Psychologe hat Archetypen als die Grundstrukturen unserer Psyche beschrieben, die in ihrer Gesamtheit das kollektive Unbewusste ausmachen. Dies bedeutet, dass uns die Archetypen nicht direkt zugänglich sind, dass sie aber unsere Wahrnehmung und unser Verhalten prägen und sich als ähnliche Projektionen über alle individuellen und kulturellen Unterschiede hinweg zeigen können. Jung dachte dabei nicht nur an bestimmte instinktive Verhaltens- und Erfahrungsmuster, sondern Archetypen können sich auch in der Form von Bildern in Mythen und Träumen zeigen. Nach Sayin sind entoptische Bilder die Schwelle zwischen Archetypen und weiteren, kulturell ausgeformten archetypischen Bildern. Für den Autor sind nicht die spirituellen Aspekte dabei vordergründig, sondern er fragt nach den Bedeutungen entoptischer Bilder für die generationenübergreifende Kommunikation und für den evolutionären Vorteil in der menschlichen Entwicklung. Durch den Hinweis auf die Archetypen erhalten MV und Co. jedoch auch eine Bedeutung für die individuelle Bewusstseinsentwicklung. Wenn beispielsweise die archetypischen Vorstellungen über den Himmel, das himmlische Licht, das Göttliche, die Wesen der oberen Welt und sogar UFO- und andere Himmelserscheinungen (vgl. Jung 1958) auf der Grundlage der Mouches volantes-Kugeln entstanden sind, dann lässt sich das Sehen dieser Kugeln – ob als Meditation oder als Inspiration für die vertiefende philosophische, psychologische oder künstlerische Auseinandersetzung – als Arbeit mit einem Archetypus verstehen. Nach Jung wäre dies die Arbeit mit dem Mandala (sanskr.
mandala, „Kreis“), dem zentralen Archetypus, der das Selbst und den Zentrierungsvorgang der Persönlichkeit symbolisiert (vgl. Jaffé 1962).