2) Emotionen vermeiden
Üblicherweise suchen wir Emotionen, denn Emotionen sind wie ein Energierausch. Sie erhöhen unsere Intensität und bewirken, dass wir uns lebendiger fühlen. Und die Mittel, Emotionen zu erfahren, sind heute breit zugänglich. Die grosse Mobilität, physisch und digital, die diversen Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, die vielfältigen Freizeitangebote, die allgegenwärtigen und leicht zugänglichen Medien – all dies sorgt für ständige Inputs und somit ständiges Gefühlserleben.
Doch wie bei allen Dingen kann es auch bei Emotionen ein Zuviel geben. Einerseits kann dies sensiblen und empathischen Menschen passieren, die für Emotionen sehr empfänglich sind. Ohne es zu wollen absorbieren sie die Stimmungen und Emotionen um sie herum. Und wenn sie sich nicht abzugrenzen und zu schützen wissen, bezahlen sie dies mit innerer Unruhe und Erschöpfung, in extremen Fällen sogar mit depressiven Zuständen und körperlichen Beschwerden. Ein Zuviel an Emotionen gibt es andererseits auch für Menschen, die sich nur noch dann lebendig und erfüllt fühlen, wenn sie starke Emotionen in sich spüren. Sie versuchen, durch Emotionen eine innere Leere auszufüllen. Wie bei anderen Süchten machen sie ihr Wohlbefinden von diesen Emotionen abhängig – und riskieren eine emotionale Abstumpfung, die sie durch noch stärkere Gefühlsregungen wettzumachen versuchen. Emotionen zu vermeiden ist für sich genommen natürlich kein Heilmittel. Aber es hilft dabei, wieder in die eigene Mitte zu gelangen und Kraft zu tanken für die Herausforderungen des Alltags.
Emotionen vermeiden bedeutet nicht das Unterdrücken oder Verdrängen von Emotionen. Wenn Emotionen bereits da sind, dann gilt es, sie zu anzunehmen, zu fühlen und damit zu arbeiten (siehe „Mit Emotionen arbeiten“ in
News 2/22). Emotionen vermeiden bedeutet auch nicht, ein vollkommen emotionsfreies Leben zu führen. Emotionen vermeiden bedeutet, problematische Emotionen gar erst nicht entstehen zu lassen. Problematisch sind Emotionen, wenn sie uns schwächen, also viel von unserer Kraft, Zeit und Ausgeglichenheit beanspruchen und uns damit von unserer Bewusstseinsarbeit abhalten. Das können sowohl negative wie positive Emotionen sein.
Wie vermeiden wir solche Emotionen? Wir tun das, indem wir die entsprechenden Reize meiden. Die extremste, aber wirksamste Form, entsprechenden Reizen aus dem Weg zu gehen, ist der Rückzug. Natürlich ist ein kompletter Rückzug aus der Welt, wie es Einsiedler, Nonnen und Asketen aller Art seit jeher tun, für die wenigsten von uns ein gangbarer Weg. Doch auch temporäre Auszeiten oder Retreats sind ein gutes Mittel, um unsere aufgesetzte Gefühlswelt zu beruhigen und unser natürliches Fühlen zu stärken.
Mit etwas Bewusstheit und Übung können wir aber auch im Alltag Situationen oder Reize meiden, die problematische Emotionen in uns auslösen. Vielleicht sind wir an unserem Wohnort oder an unserer Arbeitsstelle permanent Reizen ausgesetzt, die in uns Aggressionen, Ängste oder andere problematische Emotionen wecken. So kann uns etwa Verkehrslärm, bestimmte Gerüche, Hektik oder permanenter Stress emotional zusetzen. Manches davon können wir meiden, wenn wir beispielsweise einen anderen Arbeitsweg wählen, uns einen anderen Tagesablauf einrichten und uns regelmässig Pausen gönnen, in denen wir zur Ruhe kommen können. Im Extremfall müssen wir über einen Wechsel des Wohnorts oder der Arbeitsstelle nachdenken.
Vielleicht müssen wir auch einzelne Menschen meiden, wenn wir fühlen, dass sie uns emotional nicht gut tun. Manche Menschen verstehen sich sogar darauf, immer wieder bestimmte Gefühle in uns auszulösen, um sich davon zu ernähren. Die Seher nennen solche Menschen „Kobolde“, ein weiter verbreiteter Begriff ist der des emotionalen Vampirs (Orloff 2010). Solche Menschen zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass sie übermässig kritisch, spöttisch oder sonst negativ auf alles Mögliche reagieren. Oder dass sie sich selbst dauernd in den Vordergrund stellen und kaum auf andere eingehen. Oder dass sie sich ausschliesslich als Opfer sehen und andere mit ihren leidvollen Geschichten schlecht fühlen lassen. Oder dass sie oft manipulativ und kontrollierend handeln. Insbesondere empathische und sensible Menschen laufen Gefahr, von Kobolden heimgesucht zu werden. Das Meiden solcher Menschen ist daher eine naheliegende Reaktion. Wo das nicht möglich ist, gilt es, sich gut abzugrenzen. Beispielsweise, indem wir uns immer wieder bewusst machen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, die Emotionen anderer zu übernehmen. Indem wir lernen, nein zu ihren Ratschlägen und Aufforderungen zu sagen, die sich für uns nicht stimmig anfühlen. Und indem wir die Zeit und Aufmerksamkeit für diese Menschen begrenzen. Dies setzt natürlich wiederum einiges an Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein voraus, die wir durch Bewusstseinsentwicklung fördern. Letzteres gilt auch, wenn wir selbst koboldisches oder vampirisches Verhalten an den Tag legen.
Ein anderes Beispiel für Reize, die Emotionen auslösen, ist der Medienkonsum. Medien stehen uns heute in allen möglichen Formaten und Geräten rund um die Uhr zur Verfügung. Bücher, Filme oder Serien können uns berauschenden Horror oder Herzschmerz verschaffen, uns aber auch leer oder sehnsüchtig zurückzulassen. Nachrichten können uns informieren, uns aber auch schockieren und uns ein Gefühl der Wut und der Ohnmacht bescheren. Wie gesagt, solche Gefühle können auch belebend sein und uns im besten Fall zum Handeln animieren, um für uns selbst, für andere oder für die Umwelt etwas Gutes zu tun. Aber sie können eben auch zu viel sein und uns lähmen. Dann gilt es, diese Medien zeitweise oder ganz zu meiden. Das gelingt möglicherweise nicht sofort – etwa dann, wenn wir an diese Form der Information und Unterhaltung gewöhnt oder sogar süchtig danach sind. Dann ist es sinnvoll, sich kleinere Ziele zu stecken, um Frust vorzubeugen: Immer ein bisschen kürzer zu treten und sich dennoch hin und wieder etwas zu gönnen, während wir gleichzeitig die Zeit zunehmend für andere, kreativere Tätigkeiten nutzen – eine solche Vorgehensweise führt eher zum Erfolg, als von einem Tag auf den anderen völlig frei von jeglichem Medienkonsum sein zu wollen.
Das beschriebene Vermeidungsverhalten ist Teil eines genügsamen Lebensstils, den die Seher empfehlen (vgl.
News 1/22), und fügt sich so in unsere umfassende Bewusstseinsarbeit ein. Wir meiden übermässige Reize, die in uns Unruhe und problematische Emotionen verursachen. Dadurch stellen wir unsere Kräfte wieder her, entwickeln mehr Sensibilität für unsere Umwelt, nehmen unsere Gefühlswelt besser wahr und können dadurch auch bewusster handeln. Das Vermeidungsverhalten ist hingegen nicht hilfreich, wenn wir Dinge oder Menschen aus Bequemlichkeit oder aus Angst vor Konfrontation meiden. Wenn wir in uns hinein fühlen, werden wir erkennen, welche Ereignisse oder Menschen wir besser meiden sollten, und welchen wir uns stellen müssen, um Schwierigkeiten zu klären und Bewusstheit zu schaffen.