In der Darstellung des Lichts referiert die Künstlerin auf eine geometrische Figur, die in der Kulturgeschichte oft zur Darstellung überirdischer und übermenschlicher Mächte verwendet wurde: der konzentrische Kreis. Diese Figur lässt sich in prähistorischen Felsbildern, in religiösen Gottesdarstellungen sowie in der Darstellung innerer Lichterscheinungen durch Mystikerinnen, Ekstatiker und Schamanen finden. Meiner Ansicht nach lassen sich diese Darstellungen auf das Sehen entoptischer Phänomene zurückführen (Tausin 2010, 2023), mit denen sich Kristin in früheren Arbeiten ebenfalls auseinandergesetzt hat (News 3/20).
Bei genauerer Betrachtung des Bildes zeigt sich nun, dass der Mensch nicht einfach seinen Platz zwischen Licht und Dunkelheit einnimmt. Vielmehr mischen sich Licht und Dunkelheit im Menschen. So leuchtet der Oberkörper der Frau in derselben Intensität wie das Licht, und ihre Haarsträhnen bilden dieselben konzentrischen Kreisformen. Ohne die Dunkelheit könnten sich aber keine unterscheidenden Strukturen ausbilden, weder der Körper der Lichtsucherin, noch der konzentrische Kreis, der das Licht enthält. Auch im unteren Teil des Körpers – oder Kleides – mischen sich Licht und Dunkelheit, wenn auch in einem anderen Verhältnis. Während die Dunkelheit vorherrscht, findet das Licht dennoch seinen Weg in die Schwere des irdischen Daseins: Auf dem Bild sehen wir nicht nur Streifen des Lichts auf dem Kleid der Lichtsucherin. Aus dem oberen Teil ihres Kleides (oder dem Haar) winden sich auch mächtige Bänder (oder Strähnen) mit zarten Streifen in den Farben Blau, Grün und Violett. Als kurzwelligere und damit energetisch intensivere Farben lockern sie die dichten, warmen Farben des Kleides auf und stehen für die Nähe zur energieintensiven metaphysischen Lichterscheinung.
Wie also werden wir zum „Ich“, zu diesem höher entwickelten Teil unserer Selbst, das Kristin im Titel ihres Bildes anspricht? Ihr Bild gibt, wie ich meine, zwei Antworten darauf: Einerseits braucht es die bewusste und aktive Hinwendung zum Licht. Andererseits müssen wir uns der Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkelheit bewusst sein und diese annehmen. Ein paar Gedanken zu Letzterem, inspiriert durch den Austausch mit der Künstlerin.
Zunächst können wir unsere Erfahrungen realistischer einschätzen, wenn wir uns der Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkelheit bewusst sind. Als Lichtsuchende dürfen wir womöglich in bestimmten Momenten und Bewusstseinszuständen die Nähe des Lichts erfahren. Es sind beglückende, berührende und erkenntnisreiche Momente voller Klarheit, die uns motivieren, den Weg weiterzugehen. Es sind Momente, in denen unsere schweren irdischen Anteile – von physischen Einschränkungen über Sorgen und Ängste bis zu problematischen Persönlichkeitszügen – unbedeutend oder sogar überwunden erscheinen. Doch diese Momente vergehen, der Körper, die Gefühle, die Individualität melden sich zurück. Natürlich dürfen wir solche Erfahrungen achten und geniessen, aber wir sollten sie nicht überbewerten und keine voreiligen Schlüsse über unseren Fortschritt ziehen. Die längerfristige Perspektive mit allen Höhen und Tiefen sagt mehr aus als einzelne Momente.
Umgekehrt mag es Zeiten geben, in denen wir uns fühlen, als würden wir in den finstersten Tiefen der Materie versinken, als würde kein einziger Lichtstrahl unser Leben und Bewusstsein erhellen. In einer solchen Situation ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass wir niemals vom Licht getrennt sind. Besonders effektiv ist es, wenn wir dies, wie die Lichtsucherin im Bild, mit einer aktiven Hinwendung zum Licht tun. Je nach Gewohnheit, Bedürfnis und Vermögen können wir uns mit unseren Sorgen und Bitten an Gott wenden. Oder wir vergegenwärtigen uns die Lichtnatur unseres Bewusstseins durch erbauende Lektüren oder Gespräche. Oder wir richten uns meditativ auf das innere Licht aus, das wir in unserem Blickfeld in der Form entoptischer Erscheinungen sehen. Dies ist aktive „Ich-Werdung“.
Wir können noch weiter gehen und die Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkelheit als eine Einladung auffassen, das Licht in allem zu suchen, das wir erfahren und tun. Wer etwa das Licht in seiner reinsten Form erkennen möchte, könnte versucht sein, nur Handlungen, Lehren und Begegnungen für die Lichtsuche gelten zu lassen, die er oder sie als spirituell bedeutsam erkannt hat. Die Handlungen, Angebote und Begegnungen des Alltags zählen oft nicht dazu. Ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkelheit hingegen inspiriert uns, das Licht gerade auch im Alltag des weltlichen Lebens zu suchen. Wie können wir das tun? Fragen wir uns selbst, was genau wir uns von der Nähe zum Licht erhoffen. Was ist dieses Gute, das wir mit dem Licht in Verbindung bringen, und wonach wir uns sehnen? Das kann Frieden sein, Gerechtigkeit, die Freiheit von Leiden und Zwängen, Sinnhaftigkeit, Weisheit, Geborgenheit, Liebe. Man könnte sagen, wenn wir uns bemühen, solche und ähnliche positiven Ideale in der Welt und im Alltag zu verwirklichen, wo und wie auch immer, dann wenden wir uns dem Licht zu.
Allerdings brauchen wir hier Unterscheidungsvermögen. Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen, und viele Menschen erleben einen Mangel an Idealen wie Frieden, Gerechtigkeit, Sinnhaftigkeit oder Liebe. Umso attraktiver werden Stimmen und Akteure, die uns die Verwirklichung solcher lichtvollen Ideale versprechen. Dazu gehören natürlich die Religionen, die das Licht schon immer in eine menschliche Sprache übersetzt haben. Meist ist die Rede von „Gott“, und das religiöse Versprechen liegt darin, dass wir ein lichtvolleres Leben führen, wenn wir uns Gott durch diese oder jene Rituale und Gebete annähern. Seit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Religionen in der Moderne sind neuere religiöse und spirituelle Angebote entstanden, die ähnlich funktionieren, aber eher das Licht im Menschen als in einem Gott betonen. Die Grenzen zur Selbstoptimierung sind fliessend, zu der auch zahlreiche psychologische und psychotherapeutische Angebote zu zählen sind, die ein lichtvolleres Leben durch mehr Selbsterkenntnis, Stressmanagement und besseren Umgang mit Emotionen in Aussicht stellen.
Doch auch wirtschaftliche, politische und technologische Ideologien versprechen uns das gute, lichtvolle Leben. Der kapitalistischen Logik gemäss erreichen wir die Ideale des Lichts, wenn wir uns unternehmerisch betätigen, im Wettbewerb des Marktes bestehen und unseren Gewinn vergrössern: Durch seinen Erfolg sichert sich der kapitalistische Gewinner Macht und Ansehen, wodurch er sich Freude, Frieden, Gerechtigkeit, Liebe usw. zu verschaffen. Auch die Politik ist ein Feld, das mit der Hoffnung auf eine lichtvollere Zukunft arbeitet: Linke Politik verspricht das Licht durch mehr soziale Gerechtigkeit, Umweltbewusstsein und Inklusivität. Rechte Politik versucht dasselbe durch mehr Selbstverantwortung, Sicherheit und Exklusivität zu erreichen. Die Technologie schliesslich verspricht uns das Licht durch mehr Verständnis und Kontrolle natürlicher Vorgänge bis hin zum Ersatz des Natürlichen durch das Technische.
Wenn wir das Licht also in der Welt suchen, dann besteht die Herausforderung darin, genau hinzuschauen und diese Licht-Angebote kritisch zu hinterfragen: Was genau ist das Licht, das ein Akteur, eine Gruppe, eine Therapie oder Ideologie verspricht? Stimmt es mit den eigenen Idealen überein? Wer profitiert davon, wenn es verwirklicht wird? Wer wird ausgeschlossen? Was ist der Preis dafür und wer bezahlt ihn? Und wieviel von dem Licht, nach dem wir uns sehnen, bleibt am Ende wirklich übrig?
Schliesslich kann das Bewusstsein der Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkelheit sowie die Suche nach dem Licht in der Welt auch eine friedensfördernde Wirkung entfalten. Denn es lässt uns erkennen, dass alle Menschen Lichtsuchende sind, selbst unsere Gegner. Jeder Mensch sucht Frieden, Freiheit, Geborgenheit, Liebe usw., selbst wenn er diese spirituelle Sehnsucht ausschliesslich durch weltliche Güter und Ziele zu stillen versucht. Ja, selbst dann, wenn seine Handlungen das Leid anderer Lebewesen mit sich bringt. Andere Menschen als Lichtsuchende anzunehmen, bedeutet nicht, ihre womöglich selbstsüchtigen, unethischen oder gar kriminellen Handlungen gutzuheissen. Sich aber auf die gemeinsame spirituelle Grundlage zu besinnen, darauf, dass wir alle nach der Verbesserung unserer Situation, nach dem Guten, letztlich nach dem Licht streben, eröffnet Wege für einen mitfühlenden Austausch auf Augenhöhe. In Zeiten, in denen Herausforderungen wie Pandemien, Kriege und die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Gesellschaften polarisieren, die Fronten verhärten und respektvollen Austausch erschweren, ist diese Fähigkeit eine Grundlage für eine lichtvollere Zukunft.
Danke, Kristin, für dein Bild!